Rolf Kamradek

Erinnern Sie sich an Ihre Aufklärung?
Ich schon, denn sie fand im Schwaben der 50er Jahre statt!

Der Künstler sollte sich schämen
oder
Die Aufklärung

Der Spinat, unser Deutschlehrer, hatte bemerkt, dass die Jungen die Mädchen nicht grüßten.
„Es ist unmöglich“, sagte er, dass man fünf Stunden nebeneinander sitzt und dann auf der Straße tut, als ob man sich nicht kenne.“
Dabei saßen wir gar nicht nebeneinander. Die Jungen saßen in der linken Bankreihe und die Mädchen in der rechten. Dazwischen war ein Gang.
Der Spinat sagte, er erwarte, dass sich seine Schüler wie zivilisierte Mitteleuropäer benähmen. „Zumindest wird ab heute gegrüßt!“
Deshalb sagte ich zur Reitel-Rosi: „Grüß Gott, du blöde Gans!“ Und sie antwortete: „Grüß Gott du blöder Gänserich!“
Da wusste ich, dass sie gar keinen Wert darauf legte, von mir gegrüßt zu werden.

Im Stadtbad sind wir über den Zaun ins Mädchenbad geklettert. Die Reitel-Rosi sagte, wir sollten verschwinden, weil sie sich umziehen wolle.
Wir sind aber geblieben.
Da zog die Rosi einfach den Träger von ihrem Badeanzug über die Schulter!
Wir bekamen einen furchtbaren Schreck und rannten davon.
Der Luckinger behauptete danach, ich sähe der Reitel-Rosi nach. Wir mussten uns prügeln. Er ist nämlich mein bester Freund.

Der Rex meinte, wir müssten endlich aufgeklärt werden. Er sagte, die Religionslehrer sollten das übernehmen, da die Biologielehrerein eine Frau sei, und das ginge nicht.
Der Herr Geistliche Rat hat es aber abgelehnt, und da musste der evangelische Quasi heran.
Der Quasi hat die Aufklärung schon lange vorher angekündigt. Wir fanden es toll, dass die Katholiken ihm zuhören mussten.
Ich war besonders neugierig, denn ich war schon aufgeklärt. Durch meinen Vater. Und das war so gewesen:

Tagelang hatte er einen Kunstbildband aufgeschlagen auf dem Tisch liegen lassen. Abgebildet war eine liegende nackte Frau, und ich hatte getan, als ob ich sie nicht sähe.
Am dritten Tag hielt es mein Vater nicht mehr aus, und er fragte mich, wie mir das Gemälde gefiele.
Ich merkte sofort, dass er mir eine Falle stellen wollte und überlegte, welche Antwort meine Eltern wohl hören wollten.
Ich entschied mich für: „Der Künstler sollte sich schämen!“
Da wurde mein Vater rot, aber er sagte ganz ruhig: „Muss man sich schämen, dass Gott einen so geschaffen hat?“
Ich merkte aber gleich, dass das eine erneute Falle war und sagte: „Der Künstler sollte sich trotzdem schämen!“
Ich dachte, mein Vater würde mich jetzt loben, aber er wurde komischerweise zornig und rief: „Niemand muss sich schämen, wenn er Natur als Natur darstellt. Natur ist schön und nur Nichtnatur ist unschön, weil sie unnatürlich ist!“
Da griff meine Mutter ein und sagte: „Der Junge sieht das eben mit den unverdorbenen Augen des Kindes.“
Mein Vater schrie, ob er vielleicht verdorbene Augen habe und das Kind verderben wolle.
Dann haben sich meine Eltern gezankt, und ich hörte, wie meine Mutter sagte, das komme dabei heraus, wenn man Kindern mit Gewalt etwas aufzwingen wolle, wofür sie noch zu jung seien.

Die Reitel-Rosi meinte auch, die Aufklärung käme für uns Buben viel zu früh.
Als es aber so weit war, schickte der Quasi die Mädchen hinaus und bat um Verständnis.
Da mussten sie an uns Jungen vorbeimarschieren und hatten hochrote Köpfe.
Die Rosi sagte dabei: „So a evangelische Aufklärung interessiert mi sowieso net.“
Der Quasi, der sonst immer so stark und lustig war, uns beim Unterricht die Handgelenke verdrehte und den Nacken beutelte, sprach diesmal fahrig und ernst. Er brachte keinen Satz zu Ende und redete immer um irgend etwas herum, das wir gerne gewusst hätten.
Schließlich sagte er: „Ihr wisst schon, was ich meine, und deshalb solltet ihr nicht so viel Eiweiß essen und vor dem Schlafengehen Liegestützen machen!“
Dann verhaspelte er sich, machte eine wegwerfende Handbewegung und fing an vom Krieg zu erzählen. Dabei verdrehte er uns wieder die Handgelenke und es war lustig.
Besonders die Katholiken waren begeistert, denn sie hatten noch nicht gewusst, wie ein evangelischer Religionsunterricht abläuft.

Das war unsere Aufklärung.
Nach der Stunde sprach mich die Reitel-Rosi an und wollte alles wissen.
Ich habe aber nichts verraten.


Aus dem Buch "
Die Sau im Kirschbaum und andere schwäbische Lausbubengeschichten

 

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MA 19.02.2007