Rolf Kamradek

Abessinien
oder
Dat die sich jar nich schämen

Meine Mutter rief: "Nein, wie reizend"
Sie meinte aber gar nicht den Dr. Kranepohl, denn den konnte sie nicht sehen. Sie stand neben Frau Petersen am hüfthohen Friesenwall, einer Steinmauer, auf der Heckenrosen blühten. Davor zogen sich im sandigen Boden niedrige, braun gebrannte Gräser bis hin zur Hausmauer, und längs dieser leuchteten Blumen in allen Farben. Diese meinte Mutter und nicht den Dr. Kranepohl.
Der stand splitternackt im offenen Fenster und machte Freiübungen.
Wir warteten lange auf ihn und Tante Else, denn sie nahmen erst noch ihr Frühstück ein - in der Diele, mit Schinken und Eiern und echtem Kaffee.
Als sie endlich so weit waren, musste Tante Else noch mal schnell, aber Thorwald blockierte das Klo, hockte ewig drinn, bis Tante Else meine Mutter bedeutungsvoll anschaute und sagte: "Ich glaube, er spielt."
Da ertönte aus dem Klo eine zarte, singende Kinderstimme:

"Im Garten steht ein Blümelein,
vergiss mein nicht, vergiss mein nicht..."

Auf einem immer wieder vom Sand verwehten Bohlenweg schlenderten wir durch die Dünen. Ich glaubte plötzlich ich sei in den Bergen: So weit ich sehen konnte, zogen sich Kuppen von leuchtenden Schneefeldern. Aber es waren natürlich keine Schneefelder sondern Sandflächen, die aus dem Strandhafer blinkten, und die Hügel waren nicht höher als zwanzig Meter.
Wir durchschritten abseits des Weges ein Dünental. Rotblau blühende Heide bedeckte es, auf ihr tummelten sich Pfauenaugen, und der Dr. Kranepohl behauptete, das seien Admirale. Dann schlurften wir durch den weißen Sand, schaufelten ihn in unsere Schuhe, bis wir sie ausziehen mussten. Warm rann er durch unsere Zehen.
Plötzlich blieben wir stehen. Ein ständiges, fernes Tosen schwoll an und ebbte wieder ab. Wir lauschten, bis Thorwald es uns erklärte:
"Ich glaube, das Meer plätschert."
Wir erkeuchten einen Dünensattel, die Füße sackten im Sand, rutschten zurück, und dann stand ich endlich, erstmals und atemlos, vor der offenen See.
Sie war ganz anders als gestern das ruhige, glitzernde Watt. In grünen, schaumgekrönten Wogen jagte sie, von unendlich weit kommend, auf uns zu, und ihre hohe Brandung donnerte gegen den breiten, weißen Strand.
So hatte ich mir das nicht vorstellen können.
Auch nicht, dass da plötzlich eine nackte Frau stand.
Sie stand zwischen kleinen Vordünen auf einer Fläche gelbblühenden Mooses.
"Die denkt, sie ist allein", sagte mein Vater taktvoll. "Wir wollen nicht hinsehen" Aber da kam auch noch ein nackter Mann daher und plötzlich war alles voller Nackter, die im Sand schaufelten oder Ball spielten, und da stellte sich meine Mutter schon vor mich und rief entsetzt: "Das ist ja ein Nacktbadestrand!"
Sie wollte den ganzen Weg zurücklaufen
"Lasst uns doch ruhig am Ufer vorbei jehn", sagte der Dr.Kranepohl, und mein Vater sagte: " Wir brauchen ja nicht hinzugucken. Damals in Ostpreußen haben wir schließlich auch nackt gebadet", und ich glaubte, es zuckte ein bisschen um seine Mundwinkel.
"Dat muss aber vor meiner Zeit jewesen sein", rief der William, und meine Mutter sagte energisch: "Das war etwas ganz anderes. Damals waren ich, Vati und Tante Else ganz allein - und den Badeanzug haben wir erst im Wasser ausgezogen."
Sie sagte es in meine Richtung.
"Ach was, Augen zu und durch", befahl mein Vater. Und dann schritten wir hintereinander längs des Strandes, Tante Else zerrte Thorwald an der Hand, und wir schauten geradeaus.
Ich hatte noch nie eine nackte Frau gesehen. Nur einmal fast meine Mutter, als ich ins Schlafzimmer kam. Sie war aber rechtzeitig mit einem Schrei ins Bett gesprungen und hatte sich zugedeckt.
Nackte Frauen hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt - die Busen viel höher und mit der Spitze nach oben. So hatten sie jedenfalls in dem Heftle ausgesehen, dass wir in Ingenhausen auf dem Schuttplatz gefunden hatten. Frauen sind aber dick und haben rote Hintern von der Sonne.
Mein Vater sagte: "Man stelle sich einmal vor, wir würden hier einem Bekannten begegnen. Zum Beispiel, der Dr. Krippner käme nackt daher, und wir müssten uns begrüßen." Da mussten alle lachen.
Der Dr. Krippner ist unser Geschichtslehrer und wir nennen ihn Spinat.
Es kam jedoch nicht der Spinat, sondern das Fräulein Glotzer. Aber wir mussten sie nicht begrüßen, weil sie wegguckte und ganz schnell zum Wasser lief.
Ich schaute ihr heimlich nach. Sie war schlank und ihr Busen so, wie ich mir das immer vorgestellt hatte. Und unten hatte sie Haare. Das hätte ich von einer Englischlehrerin nicht gedacht.
Jemand sagte: "Sind Sie zum Glotzen hier, oder wollen Sie sich auch ausziehen?" Es war ein Mann, der oben nur einen Pullover trug.
Da guckten wir schnell wieder geradeaus und der Dr. Kranepohl sagte:
"Dat die sich jar nich schämen!"

 

Reizklima
oder
einmal ausprobieren könnte man es schon

Ich hatte überhaupt nicht geschlafen und meine Mutter meinte, das liege am Reizklima. Die Sonne war nämlich wahnsinnig intensiv, weil das Wasser und der Sand sie reflektierten, und mein ganzer Rücken brannte, obwohl wir uns eingerieben hatten und ich das Hemd nur für eine halbe Stunde ausziehen durfte.
"Dazu kommt noch der ständige Wind", sagte meine Mutter - "und das Salz".
Heute Nacht im Bett hatte es ständig um mich gewogt, so als würde ich noch immer von mächtigen Wellen hilflos hin und her geworfen und über den Sand geschleift. Versuchte ich mich aufzurappeln, sanken meine Füße tief im Meeresboden ein, und das zurücklaufende Wasser bildete einen Strudel um meine Knöchel, der mich stets aufs Neue umreißen und in die See saugen wollte. Schwindlig wurde mir, wenn ich auf meine umspülten Füße schaute. Meine Badehose war voll Sand, und ständig musste ich sie hochziehen, sonst wäre ich nackt vor den nackigen Weibern gestanden. Die schaufelten unentwegt und zeigten ihre roten Hintern und die vollen Brüste zeigten nicht nach oben. Nur beim Fräulein Glotzer taten sie es, und unten hat sie..... Aber sie lief davon und jemand schrie, ich solle endlich meine Hose runterziehen.
Meine Mutter sagte, mit dem Reizklima müsse der Körper erst mal fertig werden.

Hauke ist der Sohn von Frau Petersen, und er heißt wirklich Hauke - genau so wie der Schimmelreiter. Unser Zimmer gehörte eigentlich seiner Oma. Aber die war schon zum zweiten Mal im Sommer krank geworden, und der Arzt hatte sie einweisen müssen. Es war aber nichts ernstes.
Hauke war noch nie auf dem Festland, aber er war schon in Abessinien - heimlich. Er sagte dazu FKK-Strand. Seine Mutter durfte es aber nicht wissen. FKK heißt Freikörperkultur und das bedeutet nackt baden.
"Ach so", sagte ich gelangweilt. "Da war ich auch schon."
"Und?" fragte Hauke, "hast du ohne Hose gebadet?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich auch noch nicht"
"Würdest du dich das trauen?"
Hauke dacht lange nach. Er glaubte nicht recht, dass nackt Baden wirklich Kultur wäre. Aber trotzdem - einmal ausprobieren könnte man es schon. Obwohl - noch lieber würde er mal ein Mädchen küssen.
Wir nahmen uns beides ganz fest vor, und wir werden es heimlich tun.
Hoffentlich begegne ich beim FKK nicht dem Fräulein Glotzer.


Aus dem Buch "
Spätzleduft und Nordseeluft - neue schwäbische Lausbubengeschichten zwischen Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder

 

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MA 19.02.2007