Irmela Mukurarinda
Toten-Karl
Das Graue Haus an der Kirche lag genau in
der Mitte des lang gezogenen Straßendorfes am Tal.
Haus, Kirchhof und die Kirche mit abblätterndem Putz und
schiefergedeckter Turmhaube waren von einer breiten
Feldsteinmauer umgeben. Das laute Kratschen des schmiedeeisernen
Tores kündigte frühzeitig jeden Besucher an, auch die fürs
Graue Haus.
Der Kirchhof war Ulrikes Spielplatz und Quelle verbotener
Freuden. Auf den ausgetretenen Sandwegen spielte sie Himmelhopse
und lies ihre Murmeln kullern; der hochstämmige Flieder vom
Altbauer Kosche und der Stein seines Grabnachbarn hielten ihr
Gummiband zum Hüpfen und aus dem Bodenkammerfenster des
Grauen Hauses übte sie im Winter Weitwurfspucken über die
Gräber mit den Kernen der hier oben gelagerten Dörrpflaumen.
Die Mutter schickte sie allabendlich beim
Dunkelwerden mit der Milchkanne zur Nachbarbäuerin. Über die
Strasse konnte sie mit der Kanne nicht gehen. Man durfte sich
nicht erwischen lassen, denn privater Milchverkauf war plötzlich
auf Geheiß von ganz oben verboten. So blieb Ulrike nur der Weg
über den Kirchhof. Keiner der neuen Mächtigen hätte sich
getraut, abends den Kirchhof zu betreten.
Wer keinen Glauben hat, frönt dem Aberglauben und
Aberglaube macht Angst., meinte kurz die Mutter auf Ulrikes
Anfrage und drückte ihr Kanne und Geld in die Hand.
So hüpfte das Mädchen jeden Abend zum verbotenen Milchholen,
vorbei am blumengeschmückten Bauer Knappe und seiner Frau,
die laut in Stein gemeißelter Zahlen und Buchstaben
zwar geboren, aber noch nicht gestorben war und statt unter
ihrem Namen zu ruhen, im Oberdorf wohnte, weiter links
die alte Frau König und die Dorfschneiderin mit ihrem Sohn
Alfred. Mit Alfred war das so eine Sache. Er stand da, aber er
lag nicht bei seiner Mutter, sondern in Rußland im Mist, im
Dreck. Mühsam hatte Ulrike buchstabiert: Vermißt in
Russland. Das Grab war mit Blumen bedacht, doch die feste
Efeuumrandung deutete darauf hin, daß keiner im Dorf gewillt
war, der anhanglosen Flüchtlingsfrau aus dem Schlesischen das
Grab zu pflegen.
Hatte Ulrike die von Heckenrosen und wildem Wein umwucherte
Pforte zur Hofbäuerin erreicht, schaute sie neugierig zu den
drei Gräbern dicht an der Kirchhofsmauer.
Die Selbstmörderecke!
Kaum ein Sonnenstrahl schaffte es bis dorthin. Es roch dumpf,
moderig.
Aufgehängt", sagte ihr Freund, der Totengräber
Karl, im Dorf nur Toten-Karl genannt und hatte auf die ersten
beiden Erdhügel gezeigt.
Die Lore", er schneuzte ins großkarierte
Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn, auch
wenn es nicht heiß war und zeigte auf das dritte Grab, "die
Lore haben sie in Torgau, wo sie in Stellung war, aus der Elbe
gezogen. Die Russen, Kind, die Russen!"
Viel Platz hatte das Dorf Selbstmördern nicht gelassen.
Schließlich sollte ein breiter gepflegter Grasstreifen als
sichtbare Trennung zu den ordentlich Gestorbenen erhalten
bleiben.
Selbstmörder hatten im Dorf keine Chance auf sonnige
Ewigkeitsruhe.
Rechts zur Dorfstraße hin hatte ein tief herunterhängender
Apfelbaum sein dichtes Wurzelwerk weit in den Kirchhofboden
getrieben.
Die Schaufel von Toten- Karl blieb ständig hängen. Weiträumig
hat er die Fläche um den Apfelbaum zur gräberfreien Zone
erklärt.
Kein Bauer ließ sich dort begraben.
Für uns Flüchtlinge ist es gut genug., schimpfte
Toten-Karl, der Ulrike lange Geschichten vom Glatzer Ländchen
erzählte. Kind, wenn das Wetter gut war, konnten wir bis
ins Altvatergebirge sehen. Und sein Taschentuch trat in
Aktion.
Spät im Jahr, wenn alle Apfelbäume
geplündert standen, trug der Friedhofsbaum dunkelrote glänzende
Äpfel.
Keiner im Dorf wagte es, auch nur einen der Äpfel anzurühren,
geschweige denn zu essen. Selbst vor den Flüchtlingskindern
blieben sie verschont.
Totenäpfel", nannten sie die Leute.
Nur Ulrike kannte keine Bedenken und hatte sich oben auf dem
Kirchturm neben dem Uhrgehäuse einen schönen rotbäckigen
Vorrat davon angelegt. Ulrike liebte das abendlich verbotene
Milchholen, kein Mensch weit und breit und mit den Toten stand
sie auf du und du.
Toten-Karl war ihr besonderer Freund.
Wieder einmal hockte auf einem dicken roh gehobelten Brett, das
über der halbfertigen Grube lag. Bis zur Gürtelschnalle
stand Toten-Karl im halbfertigen Grab. Er wuchtete die
Erdbrocken nach oben, fluchte über Wurzeln und Knochenreste, an
denen der Stahl seiner Schaufel abprallte. Er trug eine dicke,
schmutzige Jacke, aus deren tiefen Taschen er ab und an sein bunt
kariertes Taschentuch zog, um sich das Gesicht abzuwischen.
Nach jedem Fluch wechselte die Schaufel in die linke Hand. Mit
schrägem Blick zum Kind bekreuzigte er sich und schaufelte
schnell weiter bis zum nächsten Fluch. Herrliche Wortungetüme
mit fremdem Akzent, Worte, die das Kind als etwas Verbotenes tief
in sich versteckte, tief, aber abrufbereit.
Warum fährst du so mit der Hand an dir herum", fragte
sie Toten- Karl. Er stand in seiner Grabgrube und schüttelte
missbilligend den Kopf.
Ihr Protestanten seid schon arm dran. Nicht die einfachsten
Sachen wißt ihr." Er hob das Kind vom Brett zu sich
ins Grab und flüsterte ihm zu: Wenn man flucht, muß man
den Fluch wieder bannen, sonst sitzt einem der Teufel im Genick.
Deshalb muss ich mich bekreuzigen. Euch Protestanten würde das
auch nicht schaden!
Gelassen winkte Ulrike ab: Auf dem Kirchhof kannst du
fluchen, soviel wie du willst. Hier hält es kein Teufel aus.
Schau mal, so viele Kreuze auf den Grabsteinen, dort, die
Kriegsgräber, nur Holzkreuze. Hier traut sich kein Teufel
her."
Karl sah wenig überzeugt um sich, bekreuzigte sich und versenkte
lautstark seine Nase ins Taschentuch.
Er setzte das Kind wieder auf das Brett und fuhr sich
vorsichtshalber gleich zweimal über den Körper.
Keine Angst!" Ulrike streichelte seine wattierte
Schulter. Bei mir bist du sicher. Ich bin Protestant, zu
mir kommt kein Teufel."
Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn und fingerte am
obersten Knopf seiner Jacke.
Na, vielleicht hast du recht," brubbelte er,
aber jetzt ist mir richtig warm geworden als säße der
Gottseibeiuns schon neben mir. Ich muss die Jacke aufmachen, aber
bloß nicht ausziehen. Voriges Jahr, weißt du noch, voriges Jahr
um diese Zeit habe ich das Grab für die Huhle-Minna geschaufelt.
Ich zog die Jacke aus und siehste....! Mit der
Lungenentzündung hab ich knapp bis Weihnachten gelegen. Ich hol
mir auf dem Kirchhof noch mal den Tod. Und du sagst, hier traut
sich der Teufel nicht hin. Komm", er schlug die Schaufel in
die Erde, machen wir Frühstückspause."
Umständlich arbeitete er sich aus dem Grab, klopfte mit
schmutzigen Fingern den Dreck von der Jacke, schnipste einen
kleinen Knochen weg, der sich in er Hosenfalte versteckt hatte,
und holte die abgegriffene Ledertasche, die am rot leuchtenden
Apfelbaum lehnte.
Bring mir einen Apfel mit", rief ihm Ulrike hinterher,
da, den direkt über deinem Kopf, der wird schmecken."
Kopfschüttelnd kam Toten-Karl zurück, gab Ulrike mit vielen
Kreuzen versehen den Apfel. Nun saßen sie beide auf dem Brett
und baumelten mit den Beinen im Grab.
Guck mal, dort liegen auch noch Knochen. Bringst du sie mir
nach dem Essen? So einen habe ich noch nicht, meinte
Ulrike.
Knochen gehören begraben, sagte Totengräber Karl
belehrend und öffnete seine Tasche.
Eine große verbeulte Zinkdose kam zum Vorschein.
Willst du nicht lieber ´ne Bemme von mir essen? Schau mal,
mit Wurst, Bauernwurst,. Ist noch von der Beerdigung der
Kotte-Bäuerin. Meine Alte läßt mich nicht hungern. Sie ist
zwar auch protestantisch, aber Essen hält Leib und Seele
zusammen. Das habe ich ihr gleich am Anfang unserer Ehe
beigebracht. Nimm eine, es ist genug für uns beide, du
Hänfling."
Herzhaft bissen sie in die Brote.
Wo versteckst du eigentlich die Knochen?, fragte
Toten-Karl kauend und schob Ulrike ein Rädel Extra-Wurst
zwischen die Lippen.
Oben auf dem Kirchturm. Hinter der dritten Treppe ist so
ein kleiner Raum, dort findet sie niemand.
Hast du keine Angst?
Warum? Ich sammle, bis ich alle Knochen zusammen habe.
Einen Kopf brauche ich dringend, dann machst du eine Grube
an der Mauer bei den Selbstmördern, und wir legen sie richtig
hin. Ich singe So nimm denn meine Hände, Vaterunser,
Segen und du schaufelst das Grab zu.
Aber warum wollen wir die Knochen noch einmal
beerdigen?
Ulrike wischte ihre Wurstfinger an Toten-Karls Jacke ab, polierte
ihren Apfel an seinem Ärmel und zeigte um sich.
Schau mal, überall auf den Grabsteinen steht Ruhe
sanft, Ruhe bis in alle Ewigkeit und du?
Ulrike schaute strafend zu ihm hoch. Du buddelst sie immer
wieder aus. Da mußt du dich nicht wundern, wenn dein Teufel
hinter dir her ist. Bei den Selbstmördern hätten sie ihre Ruhe
bis in die Ewigkeit. Dort gräbst du nie. Hast du etwa Angst? Sag
mal, Toten-Karl, als Katholischer, bist du gläubig oder
abergläubig?
Toten-Karl schüttelte nur den Kopf, besah sich den Brotrest in
der Hand und kaute hörbar.
Auf der Stirn des Kindes ritzte sich eine tiefe Falte ein.
Du, Toten- Karl, da liegen dann im Grab der Kopf von dem,
ein Unterbein von dem, das andere von einer Frau, das gibt aber
ein Durcheinander bei der Auferstehung. Na, Gott wird
sich das schon sortieren.
Beruhigt biss Ulrike in den Apfel.
Wie du wieder redest.
Karl schlug vorsichtshalber ein Kreuz über ihrem Kopf.
Manchmal denke ich, du bist eine Hexe. Nur die Äpfel sind
schuld, die vermaledeiten!
Guck doch!"
Sein schmutziger Finger deutete den Stamm entlang zu den unter
Herbst nassem Gras verborgenen Wurzeln.
Die Wurzeln sind lang, werden dünner und dünner,
verzweigen sich. Und diese kleinen Wurzeln, ganz viele, so dünn
wie deine Haare, saugen aus den Toten", er machte eine
ausholende Geste über die Gräber, den Saft heraus und
bringen ihn", sein schmutziger Zeigefinger ging den gleichen
Weg zurück, zu den Äpfeln. Und der Totensaft macht die
Äpfel von außen rot wie Blut, von innen weiß wie Schnee
und..."
Und was ist schwarz wie Ebenholz?" fragte das Kind
pfiffig blinzeln dazwischen und warf den Apfelgriebsch ins Grab.
Ach, bring mich nicht durcheinander. Totenäpfel isst
man nicht! Basta!"
Mit einem ungelenken Sprung stand er wieder im Grab.
Toten-Karl, bei uns sagt man am Schluß immer
Amen. Kennt ihr Katholischen das nicht?
Er schaute hinauf zu Ulrike, stützte sich auf den Schaufelstiel
und meinte nachdenklich: Vielleicht bist du wirklich eine
Hexe, du brauchst das. Du lebst vom Saft der Toten und selbst der
Teufel macht um dich einen Bogen."
Hastig schlug er das Kreuz..
Mit einem kräftigen Ruck zog er die Schaufel aus der Erde.
"Hopp, lauf, ich muß hier fertig werden, schließlich soll
der Jäckel-Franz, morgen unter die Erde. Ich würde ihn hier
nicht beerdigen, unter all den Christenmenschen. Er ist einer von
den neumodischen Kommunisten, früher das Maul gehalten, jetzt
reißen sie es um so größer auf. Da krieg ich vielleicht eine
Wut.
Im hohen Bogen flogen die Erdbrocken aus dem Grab. Ulrike sprang
beiseite. Beinahe hätte sie ein langer oben abgerundeter Knochen
getroffen.
Toten-Karl, guck mal, so einen habe ich noch nicht.
Sie hielt ihn prüfend an ihren Arm, an ihr Bein.
Er stützte sich auf seine Schaufel. Bald gibt es keine
Knochen mehr. Die Kommunisten lassen sich verbrennen, die Asche
kommt in einen kleinen Topf und wird irgendwo verbuddelt. Die
Kirchen wollen sie ja abschaffen, das soll der Jäckel-Franz auf
der letzten Gemeinderatswahl gesagt haben. Nun ist er tot. Strafe
muß sein.
Aber wie geht das mit der Auferstehung, so ganz ohne
Knochen?
Toten-Karl winkte ab: Wenn sie nicht an Gott glauben,
muß Gott sie auch nicht lebendig machen. Das
Krematorum, oder wie das heißt, da, wo sie verbrannt werden, das
ist wie ein Fegefeuer auf Erden und dann schnurstracks in die
Hölle mit dem Kommunistenpack.
Toten-Karl schneuzte laut, bekreuzigte sich und fragte:
Habt ihr Protestanten auch Fegefeuer und Hölle?
Er wartete die Antwort nicht ab, drückte ihr einen kleinen
gebogenen Knochen in die Hand.
Vom Brustbein, nickten beide fachmännisch.
Also lauf, du Hexe."
Zögerlich kam es: Aber iss nicht so viel Totenäpfel.
Kind, ich mein´s doch gut!
Ulrike steckte die Knochen unter ihre Jacke und
hüpfte über den Hügel der Müllerschen in Richtung
Kirche.
Hinter ihr ertönte aus dem Grab ein kräftiges Amen.
Aus dem Buch "Wendeschleife
oder Im Tal derer von Brühl"
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MA 11.04.2008