Reinhold G. Kusche alias William Simon

Im Netz der Schleuser
Auszug

"Im Netz der Schleuser" thematisiert Menschenhandel und Schleuserkriminalität. Die nachfolgende Sequenz beschreibt ein konspiratives Treffen der einflussreichsten Mafiagrößen des Landes.

... Der unsensible Frederic Pietrowski schien von der Brisanz nichts zu bemerken, die in der Luft lag und griff den immer noch schweigenden Eschenlohr an:
"Hast du das gehört, alter Mann? Mir scheint, du hast deinen Stall nicht mehr im Griff. Vielleicht solltest du abgeben."
Mit einer Kraft, die man Konstantin von Eschenlohr nicht zugetraut hatte, schlug er seinem Tischnachbarn mit dem Rücken der rechten Hand mitten ins Gesicht. Dieser verlor den Halt und kippte mit seinem Stuhl nach hinten. Er schüttelte sich und zauberte in Bruchteilen von Sekunden eine Automatik aus seinem Achselholster. Während die Hand Alexander Hübners auf der 9 mrn Armeepistole ruhte, die unter der Tischplatte seines Platzes mit Klebeband befestigt war, brüllte Pietrowski sen.: "Waffe weg!". Verstört rappelte sich Frederic wieder hoch und steckte die Pistole zurück. Währenddessen griff Eschenlohr seelenruhig in seine rechte Jackentasche. Er zog eine Eierhandgranate heraus. Wortlos hielt er sie hoch, riss mit der linken Hand den Sicherungsstift heraus und hielt mit der rechten den Sicherungsbügel gedrückt. Auf den Gesichtern der Gäste spiegelte sich blankes Entsetzen wider. Neben Alexander Hübner, der die Mitglieder der "ehrenwerten Familie" zu studieren schien, behielt Vanessa die Fassung. Ihre gepflegten Hände ruhten ohne Anflug von Nervosität auf der Tischplarte. Gelassen erhob sich Eschenlohr von seinem Stuhl, die Granate fest in seiner Hand. Gemessenen Schrittes ging er zur Tür des Raumes, schloss sie für alle sichtbar ab und steckte den Schlüssel in die linke Hosentasche. Wortlos defilierte er an jedem Mitglied der "Familie" vorbei und sah ihm ins Gesicht. Von Angst geweitete Augen starrten ihm entgegen. Aus den weit geöffneten Mündern drang kein Wort an sein Ohr. Eschenlohr schien jede Sektunde seiner Machtdemonstration auszukosten, als er die kleine Gruppe das dritte Mal umrundete und schließlich zu seinem Platz zurückging. Unfähig sich zu bewegen, lauschten die Gäste auf die gefährlich leisen Worte ihres Peinigers:
"Wie, glauben Sie, fühlt sich ein Vater, dem der Sohn genommen wird? Wie fühlt sich ein Mann, dem auf grausame Weise klargemacht wird, dass sein einziger Nachkomme in seiner Übereifrigkeit einen Fehler begangen hat? Wie fühlt sich ein Mann, der mit dieser Tat seiner Zukunft beraubt wird? Wie fühlt sich ein Mann, der alles verloren hat?"
Niemand im Raum wagte zu atmen. Laszlo Bolkan begann zu schwitzen. Dicke Tropfen platschten auf die Tischplatte vor ihm. Das Klopfen des Siegelringes von Igor Hannberg war verstummt. Seine Hände zitterten wie Espenlaub. Der Mund in Kalle Roths aschfahlem Gesicht war weit aufgerissen. Pietrowski sen. und jun. schienen zu Salzsäulen erstarrt, unfähig sich zu bewegen. Neben Alexander Hübner behielt nur Vanessa weiterhin die Fassung. Eschenlohr sah in die Runde.
"Bekomme ich keine Antwort auf meine Fragen? Habe ich nicht das Recht auf eine Antwort? Gut, dann will ich Ihnen meine Antwort geben. Ein solcher Mann fühlt sich einsam. Er weiß, dass er sein Lebenswerk nicht mehr weitergeben kann, dass es nach seinem Tod zerschlagen werden wird. Letztlich heißt das, dass er nie gelebt haben wird. Dieser Mann fragt sich, ob er diesen Zustand der ständigen Qual und Selbstvorwürfe nicht beenden und auf eine große Reise gehen soll, zusammen mit seinen Freunen. Vielleicht kann er dort die Ruhe finden, die ihm diese Freunde genommen haben."
Eschenlohrs rechte Hand hielt den Sprengkörper fest umschlossen. Die Knöchel seiner Finger waren weiß von der Anstrengung. Seine wirren Augen schrien nach Vergeltung. Die kehligen Worte des "Schneemannes" schienen nicht mehr zu ihm durchzudringen:
"Großer Gott, Eschenlohr, machen Sie keinen Mist."
Langsam stellte Konstantin von Eschenlohr die Handgranate vor sich auf den Tisch. Im gleichen Atemzug sprangen die Gäste von ihren Stühlen auf, warfen sich auf den Boden und schützten ihre Köpfe mit den Armen. Mit zitternden Händen zog Eschenlohr aus der Brusttasche seines Jacketts eine dicke Havanna hervor, schnupperte daran und zündete sie mit der Handgranatenattrappe an ...

 

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MA 28.09.2007